Berechnung des HRV-Stressindex nach Baevsky

Der Stressindex ist so interessant, weil man schon allein wegen des Namens meint, mehr Klarheit über das eigene Stressempfinden zu bekommen.

Für eilige Leser empfehle ich mein Fazit am Ende dieses Artikels, denn der Beitrag ist umfangreich. Wer diesen besonderen HRV-Parameter noch gar nicht kennt, kann mit meinem Einstiegs-Beitrag über den Stress-Index beginnen.

Über Stress, akut oder chronisch, wird viel gesprochen. Man beschreibt das Ausmaß subjektiv und hofft, dass der Zuhörer die Belastung versteht und nachempfinden kann. Von der wissenschaftlichen Seite gibt es Unterstützung durch standardisierte Fragebögen, um die Kommunikation eindeutiger zu gestalten. Selbstverständlich wäre es viel einfacher, wenn man eine Zahl nennen könnte und würde auf diese Weise objektiv und vergleichbar die Anspannung und Belastung mitteilen.

Eine größere Herausforderung ist es, den Belastungs- oder Entspannungszustand eines Menschen festzustellen, wenn man ihm nicht gegenübersitzt und seine Körpersprache nicht wahrnehmen kann. So war die Situation, als in der Entwicklung der sowjetischen Raumfahrt die Kosmonauten medizinisch betreut werden sollten. In den Anfängen der Weltraumfahrt wurde also nach einem systematischen Verfahren gesucht, den Stresspegel objektiv messen und bewerten zu können. In gewisser Weise war dies auch der Beginn der Tele-Medizin, aber dies ist ein anderes Thema.

In den 1950er-Jahren erkannte man bereits, dass der Stresspegel von Piloten und Kosmonauten mit messtechnischen Hilfsmitteln erfasst werden muss, um die Bewertbarkeit der Befindlichkeit zu verbessern.
Professor Dr. Roman Markovich Baevsky gilt als einer der Gründer der Weltraumkardiologie – damals ein neuer wissenschaftlich angewandter Bereich der Weltraummedizin im Institut für medizinische und biologische Probleme der Russischen Akademie der Wissenschaften. Unter seiner Führung wurde die Methode der Variationspulsometrie entwickelt und u. a. der Regulationssystemspannungsindex (Index of Regulatory Systems Tension) definiert. Er wird üblicherweise als Stressindex bezeichnet und in die HRV-Parameter eingereiht.

Zum HRV-Parameter Stressindex (SI) findet man Kurzbeschreibungen, die sehr unterschiedlich sind, je nachdem aus welcher Perspektive sie formuliert wurden:

  • Er ist ein allgemein anerkanntes Maß für die Charakterisierung von aufgezeichneten EKG-Signalen bzw. von RR-Intervallen.
  • Er gibt den Grad der zentralen Steuerung des Herzrhythmus wieder und charakterisiert die Aktivität des sympathischen Anteils des vegetativen Nervensystems (VNS). Er gilt als Hinweisgeber für Verschiebungen des Gleichgewichts des VNS, also für Veränderungen der Balance zwischen den Wirkungen von Sympathikus und Parasympathikus.
  • Der Stressindex wird auch als Anpassungsindex der Regulationssysteme des menschlichen Organismus bezeichnet. Professor Baevsky verwendet auch die Bezeichnungen “Index of Regulation Strain” oder “Straining Index”.

Der SI ist dafür geeignet, Veränderungen im Organismus über die Zeit festzuhalten. Er gehört zum Standard der HRV-Parameter und wird in jedem mir bekannten HRV-Analysesystem angeboten.

Aufbauend auf meinen Beitrag über die Berechnung von RR-Intervallen und Herzschlagrate möchte ich die Berechnung des Stressindex für HRV-Interessierte nachvollziehbar machen, die weniger technische Vorbildung mitbringen (zu denen ich auch gehöre).

Die Berechnung

Sehr allgemein ausgedrückt, wird mit dem Stressindex die Form einer Häufigkeitsverteilung (Histogramm) von gemessenen RR-Intervalle ausgedrückt. Er beschreibt das Höhen- und Breitenverhältnis, also das Verhältnis der Höhe (Anzahl) zur Breite (Variation) des Histogramms. Eine geringe Anzahl von gleichen RR-Intervallen und eine große Anzahl verschiedener RR-Intervalle (hohe Streuung) weisen auf eine gute HRV hin.

Die Berechnung des Stressindex (SI) gemäß Professor Baevsky besteht aus den folgenden Komponenten:
1.  Мо (mоde bzw. Modalwert),
2.  АМо (mode amplitude),
3.  MxDMn (variation range).

Quellen:
“Heart rate variability analysis: physiological foundations and main methods”, Roman М. Baevsky, Anna G. Chernikova, 2017
Use Kardivar System for Determination of the Stress Level and Estimation of the Body Adaptability, R.M. Baevsky, A.P. Berseneva, 2009

Mo (Modalwert)

Mit Mo wird der am häufigsten auftretende RR-Intervall-Wert der gemessenen Serie bezeichnet. Diese Statistik-Größe wird im Deutschen Modalwert genannt. Bitte nicht mit dem Mittelwert oder dem Median (Zentralwert) verwechseln. Mo entspricht in der Praxis dann dem Mittelwert, wenn es sich bei den gemessenen RR-Intervallen um eine annähernd von Gauß beschriebenen Normalverteilung handelt und während der Messung quasi-stationäre Körperaktivitäten herrschten.

AMo (mode amplitude)

AMo beruht auf der Anzahl der am Modalwert vorkommenden RR-Intervalle. Sie wird durch die Gesamtanzahl der RR-Intervalle dividiert und mit 100 multipliziert (also in Prozent ausgedrückt).
Dieser Wert beschreibt die Ähnlichkeit der RR-Intervalle, indem die Häufigkeit der RR-Intervalle am Modalwert auf die Gesamthäufigkeit bezogen wird. Je höher die Anregung des Herzschlags durch den Sympathikus, desto höher der Anteil der RR-Intervalle am Modalwert und desto schmaler die Variationsbreite.

MxDMn (variation range)

MxDMn beschreibt die Variationsbreite der gemessenen RR-Intervalle, indem die Differenz aus dem größten und dem kleinsten RR-Intervall berechnet wird. Dieses Verfahren, den dynamischen Bereich zu beschreiben, erscheint recht einfach. Aber zu der Zeit, als es von Professor Baevsky in die Weltraummedizin eingeführt wurde, musste man rechenintensive Verfahren vermeiden. Wesentliche Einflüsse können wie folgt zusammengefasst werden:

  • Die Variationsbreite wird größer, wenn der Parasympathikus aktiver ist, und kleiner, wenn der Sympathikus dominiert.
  • Die so berechnete Variationsbreite ist für eine Verfälschung durch Arrhythmien und Artefakten anfällig.

Stressindex

Der Stressindex (SI) wird gemäß Professor Baevsky nach der folgender Formel berechnet:

\begin{aligned} \displaystyle SI &= \frac{AMo*100\%}{2*Mo*MxDMn} \\ \scriptstyle Mo &: \scriptstyle \text{ Modalwert, der in der Messreihe am h\"{a}ufigsten vorkommende RR-Intervall-Wert (in Sekunden) } \\ \scriptstyle AMo &: \scriptstyle \text{ Anzahl der am Modalwert vorkommenden RR-Intervalle bezogen auf die Gesamtanzahl (in Prozent) } \\ \scriptstyle MxDMn &: \scriptstyle \text{ Differenz des gr\"{o}ssten und des kleinsten RR-Intervalls (in Sekunden) } \end{aligned}

Beispiel

Zur Veranschaulichung der Berechnungsformel verwende ich dieselben Daten wie in meinen Blog-Beitrag über die Berechnung von RR-Intervallen und Herzschlagrate.

Die Häufigkeitsverteilung (Histogramm) der verwendeten HRV-Kurzzeitmessung ergibt folgendes Schaubild mit den Werten zu den Formelbestandteilen Mo, AMo und MxDMn:

Der Stressindex-Wert (SI) von 31,17 ist in diesem Beispiel streng nach der Formel von Beavsky berechnet worden.

Berechnungsvarianten vergleichen

Nach meiner Einschätzung ist der Stresswert von den bekannteren HRV-Parametern am wenigsten zwischen den HRV-Analysesystemen vergleichbar.

Der Grund liegt wohl darin, dass der Stressindex sehr empfindlich auf Ausreißer reagiert (siehe Kapitel Robustheit) und bei den Umsetzungen der SI-Formel unterschiedliche Verbesserungsversuche vorgenommen wurden. Dies will ich an einem Beispiel erläutern.

Die HRV-Analyse-Software Kubios gilt in HRV-Kreisen als Referenz-System. Laut den Quellen Kubios – About Heart Rate Variability und “Kubios HRV (ver. 3.1) User’s Guide” werden bei der Berechnung des Stressindex bei Kubios einige andere und zusätzliche Berechnungen vorgenommen:

  • Es wird eine Quadratwurzel-Transformation angewendet, um die rechtsschiefe Häufigkeitsverteilung einer Normalverteilung anzunähern. Demzufolge wird bei Kubios der Stressindex auch als die Quadratwurzel von Baevsky’s Stressindex bezeichnet.
  • Mo wird nicht als Modalwert berechnet, sondern der Zentralwert (Median) der RR-Intervalle wird genommen.
  • AMo wird als die Höhe des normalisierten RR-Intervall-Histogramms mit einer Klassenbreite von 50 Millisekunden (ms) genommen.
  • MxDMn wird zwar als die Differenz zwischen längstem und kürzestem RR-Intervall genommen, aber um den SI unempfindlicher für langsame Änderungen der durchschnittlichen Herzrate zu machen (was MxDMn erhöht und AMo verringert), wird der niedrigste Häufigkeitswert der RR-Intervall verändert. Hierfür wird smoothness priors method angewendet, was einer Art Hochpass-Filterung zur Unterdrückung tieffrequenter Veränderungen entspricht.

Im folgenden Schaubild veranschauliche ich die Berechnung des SI nach den Angaben im Kubios-Handbuch. Die Unterschiede zum vorigen Beispiel mit der SI-Berechnung nach Baevsky sind offensichtlich. Allerdings ist das Ergebnis für den SI bei meinem Versuch, das Verfahren mit eigenen Berechnungen nachzubilden, um circa das 100-fache höher als der SI-Wert, den ich mit der Kubios-Software aus diesem Datensatz berechne. Das ist für mich ernüchternd: Letztendlich ist für mich die Berechnung des SI mit Kubios nicht vollständig nachvollziehbar – vermutlich weil mir die vollständige Verfahrensbeschreibung fehlt.

Die zwei folgenden Schaubilder veranschaulichen die Zwischenschritte der SI-Berechnung, wie sie dem Kubios-Handbuch entnehmbar waren:

Dass das untere Histogramm mit einer Klassenbreite von 50 Millisekunden (ms) so “klotzig” ausschaut, liegt an der verwendeten HRV-Kurzzeitmessung: Der Proband war gestresst und hatte eine geringe Variablilität, was folgerichtig zu einem hohen SI führen muss.

Gleichzeitig lässt sich die Anfälligkeit für Ausreißer anhand des Beispiels erahnen. Der Variationsbereich (MxDMn) ändert sich sehr, wenn auch bloß ein einzelnes RR-Intervall in eine benachbarte 50-ms-Klasse fällt und dadurch der SI beträchtlich geringer ausfällt.

Darüber hinaus entstand bei mir der Eindruck, dass auch bei anderen HRV-Programmen die oben angeführte Formel von Baevsky für die Berechnung des Stressindex zwar angegeben wird, aber bei der Programmierung davon abgewichen wird. Die SI-Berechnung für stabilere Ergebnisse verbessern zu wollen, ist auf der Herstellerseite durchaus verständlich und vermutlich ein Wettbewerbsfaktor. Aber für interessierte Anwender sind die Verfahren nicht nachvollziehbar.

Beim direkten Vergleich einer beispielhaft ausgewählten HRV-Kurzzeitmessung (eines weniger gestressten Probanden) erhalte ich folgende SI-Werte:

SI-Varianten SI-Werte
eigene Programmierung 6
Kubios 13
Vergleichssystem 1 137
Vergleichssystem 2 261

Ich würde mich freuen, wenn ich Hinweise bekäme, die mir zu einem besseren Nachvollzug der programmierten Verfahren verhelfen würden.

Sein Nutzen

Der Stressindex (SI) wurde in der Raumfahrtforschung entwickelt und wird dort immer noch verwendet. Außerdem wird er in vielen Gebieten eingesetzt:

  • Sportmedizin
  • Arbeitsphysiologie
  • in der klinischen Praxis und
  • in therapeutischen Geräten

Er wird für die quantitative Charakterisierung der vom VNS vorgenommenen Regulierung der Körperfunktion verwendet. Mit der Auswertung der RR-Intervalle und des Höhen-Breiten-Verhältnisses der Häufigkeitsverteilung (Histogramm) werden, wie mit anderen HRV-Parametern auch, vergleichbare Zahlen errechnet, um Rückschlüsse auf Änderungen der Aktivität des VNS zu ermöglichen.

Bei Professor Baevsky stehen die Regulationssysteme des menschlichen Organismus im Mittelpunkt. Der SI wird daher als ein Maß für die Regulierungsbelastung und für den Anspannungsgrad der Regulationssysteme verwendet. Er steht mit der Regulationsaktivität des Sympathikus bei körperlichem oder geistigem Stress in Verbindung.

Je stärker der Sympathikus in die Körperfunktion eingreift, desto mehr zeigt sich das am Stressindex. Der Rhythmus des Herzschlags wird immer stabiler, wodurch die RR-Intervalle immer einheitlicher werden und die Anzahl der RR-Intervalle mit ähnlicher Dauer ansteigt. Dies erhöht den AMo-Wert. Die Form des Histogramms wird schmäler und höher. In stressigen Situationen oder bei manchen Krankheiten wird das Histogramm eine schmale Basis und eine enge Spitze haben.

Je höher der Stressindex ist, desto höher ist die Aktivität der mit dem Sympathikus verbundenen Regelungskanäle. Je niedriger der SI ist, desto höher die Aktivität der mit dem Parasympathikus und den Hormonen verbundenen Regelungskanäle. Schon geringe Belastungen, körperlich oder gefühlsmäßig, können den SI verdoppeln.

Asymmetrische Histogramme entstehen bei Übergangsvorgängen während der Messung, wenn also kein stationärer Zustand besteht. Solche schiefen Histogramme sind für die Berechnung des Stressindex eigentlich nicht brauchbar, weil die Vergleichbarkeit beeinträchtigt wird. Noch ungeeigneter sind Histogramme mit mehreren Häufigkeits-Spitzen, die von Extrasystolen oder Herzrhythmusstörungen verursacht sein können.

Normale Werte

Die Angabe von Normal-Werten ist für den SI problematisch. Die Gründe sind:

  • Die Norm-Werte sind auf Messungen bei körperlicher Ruhe bezogen. Denn Bewegung und Stresssituationen führen zu einer höheren Pulsrate und einer niedrigeren HRV sowie zu störenden Übergangsvorgängen während der Messung.
  • Die Berechnungsmethoden weichen voneinander ab. Daher sollte immer beachtet werden, ob angegeben wird, wie die SI-Normwerte berechnet wurden. Noch besser wäre es, wenn vom Hersteller eines HRV-Systems eine Tabelle von SI-Normwerten für sein System mitgeliefert wird – möglichst mit Angaben zu Studien, mit denen die Normwerte ermittelt wurden.

In der Quelle “Heart rate variability analysis: physiological foundations and main methods”, Roman М. Baevsky, Anna G. Chernikova, 2017 werden folgende Angaben zu normalen SI-Werten gemacht:

  • Normalerweise schwankt der SI zwischen 80 und 150.
  • Leichter körperlicher oder emotionaler Stress erhöht den Si um das 1,5- bis 2-fache, weil er sehr empfindlich für die Erhöhung der Aktivität des Sympathikus ist.
  • Starker Stress erhöht den SI um das 5 bis 10-fache. Bei in Ruhe befindlichen Patienten mit ständig angespanntem Regulationssystem treten SI-Werte zwischen 400 und 600 auf. In Verbindung mit Anfällen von Angina pectoris und Herzinfarkt erreicht der SI Werte von 1000 bis 1500.

Aber wie schon erwähnt: Die SI-Werte und damit auch die angegebenen Normal-Bereiche sind unter anderem vom tatsächlich programmierten Berechnungsverfahren abhängig.

Im Vorsorge- und Fitness-Bereich wird daher nicht der sogenannte Quervergleich zwischen unterschiedlichen Menschen bevorzugt, sondern der “Längsvergleich” von HRV-Werten einzelner Personen. Es werden Veränderungen des Stressindex (und anderer Kennwerte) aus vielen Messungen der jeweiligen Person gewonnen und persönliche Richtwerte ermittelt. Deren Veränderung wird dann über die Zeit beobachtet und für Verhaltens-Tipps ausgewertet.

Robustheit

Wie alle anderen HRV-Parameter lässt sich der Stressindex von verschiedenen Faktoren beeinflussen. So kann beispielsweise ein langjähriger Diabetes auch ohne Vorliegen einer Stressbelastung einen hohen Stressindex anzeigen.

Für die Praxis ist immer wichtig zu wissen, wie empfindlich ein HRV-Wert für Messfehler und Anomalien ist. Die vom Sensor (EKG-Elektroden, Brustgurt, Ohr-Clip) und dem Datenerfassungsgerät gesammelten Messwerte beinhalten oft störende Anteile, die nicht zu einem typischen Herzschlag passen und zu sogenannten Artefakten im Ergebnis führen. Im Folgenden will ich auf zwei solcher Störfaktoren eingehen:

  1. Ungenauigkeit bei der Digitalisierung des Herzschlags und
  2. Artefakte aufgrund von ungewöhnlichen Herzschlägen oder Bewegungen.

Um Ungenauigkeit bei der Digitalisierung zu veranschaulichen, soll eine HRV-Kurzzeitmessung herangezogen werden und deren RR-Intervalle gezielt verändert werden. Die Veränderungen sind so gewählt, dass sie Ungenauigkeiten bei der Messdatenerfassung simulieren (+/- 2 ms, zufällig verteilt).

Die Auswirkung der Manipulation beobachten wir dann am errechneten SI, indem die Originalwerte und die Werte aus der Modifikation gegenübergestellt werden.

Im Schaubild werden die Häufigkeiten der künstlich verfälschten RR-Intervalle orange dargestellt und über die unveränderten, dunkelblauen Daten gelegt. Liegen die Balken übereinander, sind sie braun dargestellt. Man kann die zufälligen Abweichungen vom ursprünglichen Signal noch erahnen. Die Zufälligkeit der eingebrachten Abweichungen gleicht sich nicht aus, sondern führt zu einer erkennbar veränderten Häufigkeitsverteilung. Der Vergleich der von beiden RR-Intervall-Reihen berechneten Stressindex-Werte zeigt, dass der Stressindex von dieser Art von Signalstörung nicht stark, aber bemerkbar beeinflusst wird. Mit der künstlich eingebrachten Streuung der RR-Intervalle wurde das Histogramm breiter und der SI folgerichtig etwas kleiner (gerundet: 25 statt 31).

Soviel zur Veranschaulichung des Einflusses der Ungenauigkeit bei der Digitalisierung. Gehen wir nun auf Artefakte aufgrund von ungewöhnlichen Herzschlägen oder Bewegungen ein.

Um den Einfluss dieser Artefakte zu veranschaulichen, nehmen wir wieder dieselbe HRV-Kurzzeitmessung und simulieren einen falsch ermittelten Herzschlag. Dabei wird eine R-Zacke simuliert, die im EKG-Signal circa 50 Prozent verfrüht detektiert wird. Das führt zu einem entsprechend kürzeren und einem längeren RR-Intervall, wie das folgende Diagramm zeigt.

Im Histogramm wirken sich die künstlich veränderten RR-Intervalle gravierend aus. Sie wirken nach beiden Seiten wie “Ausreißer” und sind schwer zu erkennen. Die Auswirkung dieser Manipulation beobachten wir dann wieder am errechneten Stressindex SI.

Das Histogramm mit den Originalwerten (oben) wird mit der künstlich eingebrachten Fehlmessung eines Herzschlags so verändert, dass man es kaum wiedererkennt (unten). Die zwei geänderten RR-Intervallen haben das Histogramm stark verbreitert und der SI wurde folgerichtig viel kleiner (gerundet: 5 statt 31). Eine Fehlmessung oder Extrasystole kann also einen viel zu geringen SI-Wert herbeiführen.

Bereits dieser Einfluss eines einzelnen verfälschten Herzschlags ist für eine akzeptable SI-Berechnung nicht hinnehmbar. Mit diesem Beispiel ist verständlich, warum üblicherweise darauf hingewiesen wird, dass das Verfahren zur Berechnung des Stressindex, ähnlich wie beim RMSSD, für Artefakte sehr anfällig ist.

Solche Artefakte kommen in der Praxis häufig vor. Vor allem bei Bewegung, insbesondere beim Sport und bei 24-Stunden-Messungen, treten sie meist wegen instabilem Hautkontakt der Mess-Sensoren auf. Eine weitere Ursache für Artefakte sind ungefährliche Extrasystolen (zusätzliche Herzschläge, die nicht von Sinusknoten erzeugt werden) oder gesundheitlich bedenkliche Rhythmusstörungen.

Um gewonnenen RR-Intervalle trotz Artefakte für eine HRV-Analyse auswerten zu können oder für die Beurteilung von therapeutischen Behandlungen wie Bio-Feedback oder Hypoxie zu verwenden, wird meist versucht, die Daten automatisch zu korrigieren. Dies kann in einfachen Fällen, wie im Beispiel eines einzelnen ungewöhnlichen Herzschlags, recht gut gelingen. Falls aber zum Beispiel wegen Kontaktunterbrechungen am Sensor stärker ausgeprägte Artefakte auftreten, können die automatischen Verfahren auch überfordert sein. Dann ist eine nachträgliche Behandlung der Messdaten von Hand das bessere Vorgehen. Solche manuellen Korrekturmöglichkeiten sind nach meinem Kenntnisstand nicht in Systemen für Endverbraucher vorgesehen, sondern eher für Wissenschaftler und Therapeuten. Besonders positiv aufgefallen ist mir die interaktive Korrekturmöglichkeit mit Hilfe des Poincaré-Diagramms, wie das beim BioSign HRV-Scanner umgesetzt ist.

Ich hoffe, meine Erläuterung der Berechnung des Stressindexes (SI) ermöglicht auch HRV-Interessierte mit weniger technischer Vorbildung, eine Vorstellung der Zusammenhänge zu entwickeln.

Mein Fazit

Der Name des HRV-Parameters Stressindex weckt Erwartungen, die er nicht erfüllt. Wer meint, dass damit der empfundene Stress mess- und vergleichbar dargestellt wird, täuscht sich. Der Stressindex ist eine Möglichkeit, die Häufigkeitsverteilung von RR-Intervallen in Form eines Wertes zu beschreiben. Wie der Erfinder, Professor Baevsky, schreibt, handelt es sich beim SI um ein Maß für die Anspannung der Regulationssysteme des menschlichen Organismus. Aufgrund der Empfindlichkeit für Messfehler und Störungen muss er mit Sorgfalt verwendet werden. Wegen den unterschiedlich umgesetzten Verfahren zur Berechnung des SI ist ein Quervergleich zwischen unterschiedlichen HRV-Systemen nicht einfach möglich.

PS: Die Beispieldaten wurden von Erich Langenbuch mit Hilfe der Programmiersprache R aufbereitet.

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